Josef Kiening: Meine Jugendjahre
Geboren wurde ich am 30.August 1941 um 10 Uhr 15 Minuten in
der Klinik Dr. Schnitzer in der Kaulbachstraße 59 in
Schwabing. Getauft wurde am nächsten Tag in der Klinik, die
örtlich zuständige Pfarrei war St. Ludwig in der Ludwigstraße.
Mein Vater war dieser Zeit als Soldat in Russland im Krieg . Für
ihn wurde ein Bild im Fotoatelier gemacht und mit Feldpost nach
Russland geschickt.
1942
Um mich zu baden, hatte meine Mutter eine kleine Blechwanne auf
einen Stuhl gestellt. Das war in der Wohnung neben dem Bäckerladen
in der Parkstraße im Erdgeschoss. Der Krieg hatte seinen Höhepunkt
erreicht. Die Väter waren alle im Krieg. Die Mütter mussten alleine
zurecht kommen.Immer, wenn einer der Männer Heimaturlaub hatte, traf
sich die Verwandtschaft und es wurde fotografiert.Im September 1942
war Vaters erster Heimaturlaub aus Russland. Vater sieht mich
zum ersten Mal.Die Großmutter aus Freising hatte uns 1942
zuletzt gesehen bei ihrem Besuch in München. Es gibt Fotos im
Ausstellungspark im Westend.
Vater kaufte bei der Heimfahrt aus Rußland in Prag das
Schaukelpferd. Es wurde mein Weihnachtsgeschenk 1942.
1943 Umzug nach Hattenhofen
Als 1943 die Bombenangriffe der Allierten München erreichten, zog
meine Mutter zu den Großeltern nach Hattenhofen. Die Möbel ließ
sie in der Wohnung in München.
Die alten Großeltern hatten eine kleine
Selbstversorger-Landwirtschaft und konnten eine junge
Arbeitskraft gut gebrauchen. Mutters Schwester, Tante Leni
(Magdalena Buchta), war ebenfalls aus Bayreuth mit ihrer kleinen
Tochter Irmi ins Elternhaus zurück gekehrt und zum Ende des
Krieges kam auch Tante Therese Lauchner, nachdem in München alles
kaputt gebombt war. Hier gab es außer Pferden alles, was zu
einem Bauernhof gehörte: Einen Stall mit einem Ochsen, einer Kuh
und einem Schwein.
Außerdem gab es einen Hühnerstall und einen Gemüsegarten, auf den
die Großmutter besonders stolz war. Der Ochs musste den Wagen und
den Pflug ziehen. Weitere Maschinen waren nicht vorhanden. In der
Scheune lagerte Heu und Stroh als Viehfutter. Hinter der
Schreiner-Werkstätte von Onkel Xaver und Hans Heiß, die aber im
Kriegsdienst abwesend waren, war ein Bretterlager mit Dach und
ein Obstgarten mit verschiedenen Bäumen und einem Gartenhäuschen.
Als Kleinkind hatte ich den nach Süden offenen und dadurch warmen
und windgeschützten Hof und Garten als Spielplatz. Das Haus hatte
ein weit nach Süden überstehendes Dach. Da saß der kranke Großvater
und passte auf die Kinder auf, während die Frauen der Arbeit
in Hof und Feld nachgingen.
Die Kinderkleidung auf den Bildern ist durchwegs selbst gestrickt.
Im Krieg gab es nichts mehr zu kaufen. Da haben die Mütter alte
Wollsachen aufgetrennt und etwas neues daraus gestrickt. So
wurde die Kinderkleidung dem Wachstum der Kinder angepasst. Den
Kindern war es egal, sie kannten es nicht anders. Die Cousine Irmi
ist besser gekleidet. Ihre Mutter war Schneiderin und konnte aus
alten Resten Kinderkleider nähen.
1943 im letzten Kriegsurlaub fotografierte mich mein Vater auf einem
Dreirad, das er in Italien gekauft hat.
1943 ging krabbeln noch schneller als laufen. Aber auf dem Dreirad
ging es schnell.
Der Großvater Franz Xaver Heiß
1943 war der Großvater 73 Jahre alt und litt an Wassersucht. Er
konnte schon lange die schwere Arbeit nicht mehr leisten. Die
Großmutter war nur 2 Jahre jünger und versorgte den Stall mit dem
Ochsen und der Kuh. Als vollwertige Arbeitskraft kam meine Mutter
gerade recht. Da die Männer alle im Krieg waren, musste sie alle
Arbeiten verrichten, die eigentlich Männerarbeit waren. So pflügte
sie mit dem Ochsen den Acker, erntete das Getreide mit der Hand. Die
Landwirtschaft war nicht groß. Das für die Familie notwendige Essen
konnte sie gut erzeugen.
Nur zum Dreschen des Getreides kam die Dreschmaschine der
Dorfgemeinschaft in den Hof. Alle anderen Arbeiten wurden mit
der Hand und dem Ochsen als Zugtier erledigt. Meine Mutter hat
auch beim Polz-Bauern (Großbauer in Hattenhofen) wo ihre
Schulfreundin Bäuerin war, mit dem Pferd den Acker gepflügt. Im
Gegenzug werden die Polzen bei unserer Landwirtschaft geholfen oder
Getreide gegeben haben.
Nicht nur bei den Lebensmitteln, sondern auch mit Energie war die
Familie autark. Das Brennholz (Äste) musste aus dem Wald geholt und
Ofen fertig zerkleinert werden. Damit war die Großfamilie in den
Notjahren auf keine Einkäufe angewiesen.
Der Torfstich
Der Großvater hatte auch einen Torfstich. Es war wohl Gemeindegrund,
der von allen Gemeindemitgliedern gemeinsam genützt wurde. Heute ist
das ganze Gelände eine große Photovoltaik-Anlage. Unter
dem Humus war Torf. Ich erinnere mich undeutlich. Da war
ich 2 bis 3 Jahre alt. Es muss vor 1945 gewesen sein, denn ab 1945
war der Großvater krank und arbeitsunfähig. Der Großvater
hat mit einem rechteckigen Schneidegerät an einer langen
Stange über einer senkrechten Wand aus Torf stehend aus einem
schmalen Wasserloch im Moor längliche rechteckige Torfstücke etwa so
groß wie Briketts geschnitten.Das Torfstück blieb in der Form
hängen, wurde mit der Stange aus dem Wasserloch hervor gehoben. Dann
hat gegenüber meine Mutter den Torf aus der Form genommen und
unter einem Dach daneben über kreuz zum Trocknen
aufgerichtet. Die getrockneten Torfstücke waren unser
Heizmaterial. Ich musste ruhig daneben sitzen bleiben und zuschauen.
Wenn ich in das tiefe Wasserloch gefallen wäre, hätten mich
die Erwachsenen kaum heraus fischen können.
So verbrachten wir die Jahre 1943 bis Ende 1946 vor Bombenangriffen
sicher und ohne zu hungern auf dem Land. In den Nächten hörte man
die Flieger und sah am östlichen Horizont den Lichtschein der
brennenden Stadt München.Tante Leni war schon um 1940, als ihr Mann
in den Krieg musste, mit Kind und Möbeln zu den Eltern heim
gekommen und wohnte in der "Austragswohnung" in einem Nebengebäude.
Als Schneiderin und Näherin war ihre Arbeit im Dorf gefragt und
wurde mit Lebensmitteln bezahlt. Leni arbeitete deshalb nicht
regelmäßig in der Landwirtschaft.
Die Tante Fanni in Oberschweinbach. so klein und zierlich sie
war, brachte in diesen Jahren das Kunststück fertig, alleine ein
Haus für ihre Familie zu bauen. Meine Mutter erzählte mir, daß Fanni
einmal einen Bezugsschein für einige Tonnen Zement bekam, der jedoch
am Bahnhof Althegnenberg lagerte. Sie kam mit dem Radl nach
Hattenhofen. Hier spannte meine Mutter den Ochsen vor den Wagen und
beide fuhren mit dem Fuhrwerk nach Althegnenberg, luden die
Zementsäcke auf den Wagen, fuhren bergauf bergab nach
Oberschweinbach, luden den Zement ab und dann fuhr meine Mutter mit
dem Wagen zurück nach Hattenhofen. Die knapp 20 km waren mit dem
langsamen Ochsen wohl eine Tag füllende Unternehmung.
1944 früheste Erinnerungen an die Kriegsjahre
Am 21. April und am 9. Mai 1944 war laut Impf-Bescheinigung die
Diphtherie-Impfung beim Wirt Eberl an der Hauptstraße in
Hattenhofen. Die Ärztinnen (wahrscheinlich waren es
Krankenschwestern, denn die Ärzte waren im Kriegseinsatz) impften im
Nebenzimmer der Wirtschaft. Alle Mütter mit Kleinkindern warteten in
der vormittäglich leeren Wirtsstube. Da alle Kinder schreiend
aus dem Nebenzimmer kamen, schrien und zappelten die Wartenden schon
vorher. Ich sehe noch die hohe Wandvertäfelung aus Profilbrettern in
der Wirtsstube vor mir. Die Ärzte mussten gute Nerven haben und
behandelten die Kinder entsprechend unsanft, so dass diese wirklich
Grund zum Schreien hatten. Diphtherie-Impfung erfolgte meines
Wissens mit einer Angst einflößenden Spritze. Das ist im Alter
von 2 3/4-Jahren meine früheste Erinnerung an ein konkretes
Ereignis.
Meine Mutter war in Sorge, was aus der Bäckerei in München geworden
ist. So lange noch Züge fuhren, ist sie immer wieder einmal nach
München gefahren, um nach zu schauen und etwas zu holen, zum
Beispiel Kleidung. Tatsächlich waren dort einmal, als wir
ankamen, fremde Leute, "Ausgebombte", die ihre Wohnung verloren
hatten, aus der Nachbarschaft einquartiert. Eingeprägt hat
sich das Bild mit meiner erschrockenen Mutter im Hausgang, während
die Hausverwalterin beschwichtigend auf beide Parteien eingeredet
hat.
Meine Mutter setzte mich bei diesen Besuchen in einen leichten
Kinderwagen für die Wege zur Bahnstation Haspelmoor bzw. vom
Hauptbahnhof ins Westend zur Parkstraße. Ich erinnere mich, dass uns
eine Frau deswegen angesprochen hat, warum ich als so großer
3-jähriger Bub noch im Wagerl gefahren wurde. Meine Mutter sah das
realistischer. Mit dem Kinderwagen konnte sie bei Fliegerangriff
rennen. Mit einem übermüdeten oder quengelnden Kind an der Hand ging
das nicht. Das hat die andere Frau dann schon verstanden.
Bei einem dieser München-Besuche noch vor Kriegsende wurden wir vom
Fliegeralarm überrascht. Da saßen wir mit den übrigen ca. 10
Hausbewohnern der Parkstraße im Luftschutzkeller, einem etwa 20 qm
großen Raum, der mit einer massiven Eisentüre zum Kellergang hin
verschlossen war. Ich weiß noch undeutlich, wie der Raum mit
Ziegelgewölbe ausgesehen hat. Wenn ich daran denke, bekomme
ich Beklemmung, Platzangst und das Gefühl, keine Luft zu
bekommen. Bei Alarm wurde der Strom abgeschaltet. Dann war es
dunkel. Ich war wohl das einzige Kleinkind in diesem Keller.
Größere Kinder aus dem Haus waren schon aufs Land geschickt worden.
Heute frage ich mich, wozu dieser Keller gut war. Wenn das Haus von
Bomben getroffen worden wäre, gebrannt hätte oder gar
eingestürzt wäre, hätten wir diesen Keller nur durch eine Kellerluke
verlassen können. Vor diesem flachen niedrigen Kellerfenster lag
normalerweise ein schwerer Betonklotz ca. 100 x 40 x 20 cm, ein
Luftschutz-Stein. Die Eingeschlossenen hätten erst diesen Beton weg
wälzen müssen. An die Fassade außen waren große weiße Pfeile zu
diesem Luftschutzraum-Fenster gemalt. Sie sollen Helfern oder
Schutzsuchenden den Weg in den Bunker zeigen.
Ab September 1944 war mein Vater in Kriegsgefangenschaft. Nun musste
meine Mutter alleine zurecht kommen. Es dauerte wohl bis 1945, bis
sie wieder Nachricht hatte, dass Vater überhaupt noch lebte.
Auf den Bildern aus den Kriegsjahren fällt mir auf, dass meine
Mutter. obwohl sie in die Kamera zu lächeln versucht, einen
ungewohnt harten Gesichtsausdruck hat. Das kam wohl durch den Krieg.
29. 4 . 1945 Kriegsende
Meine zweite datierbare Erinnerung ist das Kriegsende
1945. Wir waren in Hattenhofen.
In der Nähe des Hauses führt die
Bundesstraße Augsburg München durch den Ort. Die Amerikaner waren
bereits in der Nähe des Dorfes. Wir saßen alle im Kartoffelkeller
unter der Scheune. Das war der einzige Keller des Anwesens.
Im Brandfall wären wir aus dem Keller niemals heraus gekommen. Da
bombardierten amerikanische Flieger das Dorf. Als sich der Lärm
legte, verließ Mama den Keller, um uns eine Suppe zu kochen. Wir
hatten große Angst um sie. Als wir uns auch aus dem Keller
wagten, war das Metzgeranwesen auf der anderen Straßenseite
abgebrannt. Ich erinnere mich, wie die Feuerwehr, das waren junge
Frauen in grünen Uniformen, die rauchenden Trümmer auseinander
räumten. und die am Boden liegenden Reste löschten. Frauen
in Hosen waren damals noch ungewöhnlich, so dass mir
kleinem Kind das auf fiel. Mama hatte ein weißes Bettlaken
aus dem Fenster gehängt, wahrscheinlich hatten die Nachbarn das
gleiche getan.
Man kann den Amerikanern nicht vorwerfen, dass sie so kurz vor
Kriegsende kein Risiko mehr ein gingen und keine Lust zu
Kampfhandlungen mehr hatten.
Meine Tante erzählte mir dazu später, dass Irmi (6) und ich (3,5
Jahre) neugierig hinter dem Fenster zur Straße saßen,
während sich die Frauen versteckt hielten. Da schaute ein ganz
schwarzer Neger zum Fenster herein. Als er uns Kinder sah, ging er
gleich weiter. Wir hatten vorher noch nie einen Neger gesehen und
sind natürlich sehr erschrocken..
Dann rollten die amerikanischen Panzer langsam auf der Bundesstraße
durch den Ort in Richtung München. Sie rollten pausenlos mehrere
Tage und Nächte. Bald überwanden wir Kinder die Angst und standen
staunend am Straßenrand. Manchmal warf uns ein Soldat
Schokolade oder Süßigkeiten aus dem Fahrzeug zu. Nach meiner
kindlichen Erinnerung rollten eine Woche lang Tag und Nacht
Panzerkolonnen auf der Bundesstraße durch den Ort, während wir
die Reste des deutschen Militärs überhaupt nicht bemerkt hatten.
Sicher waren nur die ersten Fahrzeuge Panzer und der Rest LKWs, aber
für mich als Kind war da kein Unterschied. Alle hatten die gleiche
Farbe. Aber die Kolonne war wirklich eine Woche lang.
Die Silberdächer in Hattenhofen
In den letzten Kriegstagen standen alle Bahnhöfe
voll mit Güterzügen, nachdem die Strecken durch Bombardierung
unterbrochen waren. Im Bahnhof Haspelmoor standen Güterwägen mit
eiförmig runden Aluminiumblechen mit etwa 25 cm Durchmesser an der
längeren Seite. Nach Kriegsende hat die Dorfbevölkerung die Züge
geplündert und auch die Aluplatten mitgenommen, wahrscheinlich
weil sie so schön silbrig glänzten. Niemand wusste, was man damit
anfangen konnte, bis jemand die Idee hatte, die Scheiben wie
Fischschuppen oder Biberschwanz-Dachplatten auf ein Dach zu
nageln. Bald waren viele Nebengebäude und Holzlegen in Hattenhofen
so gedeckt und glänzten silbrig. Noch lange sind mir bei Besuchen
die Silberdächer aufgefallen. Manche wurden später mit Farbe
überstrichen
Holzgaser
Es muss bald nach dem Einmarsch der Amerikaner gewesen sein, als
noch keine Züge verkehrten. Ich erinnere mich, wie mich meine Mutter
im Morgengrauen die Bundesstraße Richtung Mammendorf entlang zog bis
zu einem abgelegenen Haus. Dort stiegen wir in einen Holzgaser-LKW,
der nach München fuhr. Ein Holzgaser war ein Lastwagen, der auf der
Ladefläche einen umgebauten Badeofen hatte, in dem Feuer brannte. Im
Wasserbehälter war kein Wasser, sondern geeignete Holzscheite, die
durch die Hitze vergast wurden. Mit dem Gas lief der
Dieselmotor. Der Fahrer musste immer nachheizen, wenn der
Motor stehen blieb. Mit dem LKW kamen wir am gleichen Tag wieder
nach Hattenhofen zurück. Meine Mutter hätte mich auch bei den
Großeltern und Tanten lassen können, aber da hätte ich
wahrscheinlich ein Geschrei angestimmt. Außerdem war ein
Kleinkind paradoxerweise ein Schutz für die Frauen vor Belästigung.
Bei diesen Kontroll-Besuchen ging meine Mutter mit mir jedes mal
ganz heimlich in den Bäckerei-Keller. Da stand in einem stumpfen
finsteren Gangende unter Gerümpel getarnt ein 5-Liter
Blecheimer mit Zuckerguss, "Fondant-Masse" genannt. Davon bekam ich
bei jedem Besuch einen Löffel voll zu schlecken.
Mit dem Rad fuhr meine Mutter im Mai oder Juni 1945, als es noch
keine Post gab, mit mir im Kindersitz von Hattenhofen nach Freising
zur anderen Großmutter, um dieser mitzuteilen, dass wir den Krieg
überlebt hatten.
Meine Cousine Irmi war 3 Jahre älter als ich und mit ihrer Mutter,
Tante Leni, in Hattenhofen evakuiert. 1944 besuchte sie schon
die Schule. Was sie lernte, brachte sie mir anschließend bei, denn
ich war ihr Spielgefährte und musste beim Schule spielen immer die
Schülerrolle übernehmen. Tante Leni war Schneiderin und war die
einzige der Erwachsenen, die nicht auf dem Feld, sondern im Haus
arbeitete. Sie hat tagsüber auf die Kinder aufgepasst, ihre Tochter
Irmi und mich. Wir hatten in den Kriegsjahren fast kein
Spielzeug und keine Anregung von außen, und spielten
zwangsläufig mit den Sachen, die wir vor fanden. Fernsehen und
Bücher gab es nicht. Schule war sehr interessant zu spielen, da es
nichts anderes gab.
So konnte ich beim Schulanfang bereits lesen, aber nach
Dorfschulart. Meine Lehrerin in München beanstandete immer mein
Buchstabieren: ich sagte A, Bee, Cee, Dee usw. Wir sollten aber die
Konsonanten allein sprechen, ohne die Vokale dazu.
1946 zog meine Mutter mit mir wieder nach München, um ihren Anspruch
auf die Wohnung zu verteidigen.
1946 Ringsum Ruinen
So sauber und in gutem Zustand wie heute waren die Häuser im
Westend 1946 nicht. Schon im September 1942 wurde die nächste
Straßenecke Parkstraße - Tulbeckstraße von Bomben getroffen. 1946
stand an dieser Stelle nichts mehr. Bis um 1950 waren die
Schutthaufen weg geräumt. Als die Häuser in den 1950-er Jahren
wieder aufgebaut wurden, wohnten wir schon nicht mehr im Westend.
Es war große Wohnungsnot. In jedes freie Zimmer wurden "Ausgebombte"
oder Flüchtlinge einquartiert. Von der Bäckerei und der dazu
gehörenden Wohnung im 1. Stock konnte meine Mutter nur ein Zimmer im
ersten Stock behalten. Die Bäckerei war bis 1949 unter
verpachtet an eine Familie, die nach meiner Erinnerung Hornung hieß.
Wir behielten die zwei zur Bäckerei gehörenden Zimmer im 1. Stock.
Das war nur eine Teilwohnung. In zwei weiteren Zimmern wohnte eine
alte Familie Gradl. Eine Wasserstelle für alle gab es nur im Gang
und das Klo war im Treppenhaus. Meine Mutter hatte als Schlafzimmer
mit mir eines der zwei Zimmer, das nur durch das andere, eine
Wohnküche, zu erreichen war. In der Wohnküche waren noch zwei Männer
einquartiert. Die waren tagsüber, wenn wir dort wohnten, in der
Arbeit. Das Schlafzimmer war ja nicht heizbar. Der ältere Mann hieß
Thoma und hängt irgendwie mit der Familie Thoma zusammen, bei der
meine Mutter 1941 als Hausmädchen arbeitete. Siehe dazu den Bericht
meiner Mutter. Ich glaube, Thoma hatte seine ganze Familie und die
Wohnung bei einem Fliegerangriff verloren. Ich habe versäumt, meine
Mutter danach zu fragen. Er war jedenfalls alleinstehend und
als in der Nachbarwohnung ein Fräulein Scheckenhofer einquartiert
wurde, hat Thoma zur Verblüffung der Hausleute überraschend das
Fräulein Scheckenhofer geheiratet.
Der zweite Zimmerherr war ein junger Mann namens Wagner. Er war aus
Schlesien und als Soldat in München gestrandet. Seite Eltern fand er
über das Rote Kreuz erst nach einigen Jahren wieder. Diese kamen
dann als Flüchtlinge nach München. Bis dahin hat er als Gehilfe in
der Werkstätte von Thoma gearbeitet. Wir sahen ihn später
öfters als Zeitungsverkäufer am Hauptbahnhof und ich erinnere mich
an einen Besuch bei den Eltern Wagner, nachdem diese in München eine
Wohnung bekamen. Das war schon nach 1949..
Kino
Als 1946 das Kino an der nächsten Ecke wieder öffnete, wurde
meine Mutter von ihren einquartierten Zimmerherren in das Kino
eingeladen. Ich wurde mit genommen. Wer hätte sonst auf mich
aufgepasst. Dass der Film ("Der Tiger von Eschnapur") Jugendverbot
hatte, störte wohl niemand, denn ich war ja noch ganz klein. Die
Handlung habe ich nicht mitgekriegt, aber an eine Szene erinnere
ich mich noch: Ein Mann schwamm flüchtend im Wasser und einige
Krokodile verfolgten ihn. Davon träumte ich jahrelang. Meine
Abneigung gegen Kinofilme kann auf dieses Erlebnis zurück gehen.
Das Kino spielte damals eine viel wichtigere Rolle als heute, denn
Fernsehen gab es noch nicht.
Ich war etwa 5 Jahre alt (1946), als ich eine Straßenbahn
abbremste. Im Anhänger (Beiwagen) der Straßenbahn gab es an der
Wand der Plattform ein halbmeter großes Rad. Das war die
Handbremse, wenn der Wagen abgestellt wurde. An Bergstrecken, wie
am Nockherberg, musste sich der Schaffner an die Handbremse
stellen, um notfalls den Wagen abzubremsen. Als ich mit meiner
Mutter in die Straßenbahn gestiegen war, sah ich das Rad und rief:
"Ui, ein Radl !" Schon war ich dort und habe gedreht. Da hat
es gerumpelt und der Straßenbahnzug ist gestanden. Der Schaffner
konnte mir nicht so schnell nachlaufen. Er hat die Bremse
wieder aufgedreht, dann zweimal an seinem Glockenseil
gezogen. Da hat beim Fahrer im ersten Wagen die Glocke gebimmelt
und die Tram konnte weiter fahren. .Die Handbremsen hatten schon
eine Sperrgabel, aber diese war offensichtlich nicht eingehängt.
1946 Spielzeug
Einer der Zimmerherren namens Thoma hatte eine Schreinerei, die auf
die Herstellung von hölzernen Hutformen spezialisiert war. Als ich
mit meiner Mutter einmal in die Werkstätte kam, nahm Thoma einen
etwa 10 cm großen Holzwürfel und zerschnitt ihn mit der Bandsäge,
wobei er ihn ständig drehte. Dann schenkte er ihn mir. Der
zerschnittene Würfel fiel nicht auseinander, konnte aber wie ein
Puzzle zerlegt und zusammengesetzt werden. Thoma zeigte mir, wie es
ging. Ich brachte den Würfel aber nicht alleine zusammen. Als ich
später Gewalt anwendete und Teile zerbrach, war Thoma enttäuscht.
Einmal war ich nach dem Krieg mit meiner Mutter in einem größeren
Raum, in einer Ruine Ecke Tulbeck - Parkstraße. Mehrere Frauen
sortierten Lumpen in große Säcke. Plötzlich kam eine
Kasperl-Handpuppe unter den Lumpen zum Vorschein. Eine der Frauen
meinte: "Schenkt den Kasperl doch dem Kind". So bekam ich mein
erstes und, soweit ich mich erinnere, einziges puppenähnliches
Spielzeug. Der Kasperl hatte eine grüne Filzjoppe. Der Kopf war,
glaube ich, nicht aus Holz, sondern aus einem weicheren Material. Am
Ende der langen Zipfelmütze hatte er ein Glöckchen. Mit dem Kasperl
unterhielt ich vom Parterre-Fenster aus die vorbei gehenden Leute.
Fortsetzung Jahre
1947 bis 1955
(C) Josef Kiening München 2024