Josef Kiening:  Meine Jugendjahre


Geboren wurde ich am 30.August 1941 um 10 Uhr 15 Minuten  in der Klinik Dr. Schnitzer in der Kaulbachstraße 59 in Schwabing.  Getauft wurde am nächsten Tag in der Klinik, die örtlich zuständige Pfarrei war St. Ludwig in der Ludwigstraße. Mein Vater war dieser Zeit als Soldat in Russland im Krieg . Für ihn wurde ein Bild im Fotoatelier gemacht und mit Feldpost nach Russland  geschickt.

1942

Um mich zu baden, hatte meine Mutter eine kleine Blechwanne auf einen Stuhl gestellt. Das war in der Wohnung neben dem Bäckerladen in der Parkstraße im Erdgeschoss. Der Krieg hatte seinen Höhepunkt erreicht. Die Väter waren alle im Krieg. Die Mütter mussten alleine zurecht kommen.Immer, wenn einer der Männer Heimaturlaub hatte, traf sich die Verwandtschaft und es wurde fotografiert.Im September 1942 war Vaters erster Heimaturlaub aus Russland.  Vater sieht mich zum ersten Mal.Die Großmutter aus Freising  hatte uns 1942 zuletzt gesehen bei ihrem Besuch in München. Es gibt  Fotos im Ausstellungspark im Westend.
Vater kaufte  bei der Heimfahrt aus Rußland in Prag das Schaukelpferd. Es wurde mein Weihnachtsgeschenk 1942.

1943 Umzug nach Hattenhofen

Als 1943 die Bombenangriffe der Allierten München erreichten, zog meine Mutter zu den Großeltern nach Hattenhofen. Die Möbel ließ sie in der Wohnung in München.
Die alten Großeltern hatten eine kleine Selbstversorger-Landwirtschaft und konnten eine junge Arbeitskraft  gut gebrauchen. Mutters Schwester, Tante Leni (Magdalena Buchta), war ebenfalls aus Bayreuth mit ihrer kleinen Tochter Irmi ins Elternhaus zurück gekehrt und zum Ende des Krieges kam auch Tante Therese Lauchner, nachdem in München alles kaputt gebombt war.  Hier gab es außer Pferden alles, was zu einem Bauernhof gehörte: Einen Stall mit einem Ochsen, einer Kuh und einem Schwein.

Außerdem gab es einen Hühnerstall und einen Gemüsegarten, auf den die Großmutter besonders stolz war. Der Ochs musste den Wagen und den Pflug ziehen. Weitere Maschinen waren nicht vorhanden. In der Scheune lagerte Heu und Stroh als Viehfutter. Hinter der Schreiner-Werkstätte von Onkel Xaver und Hans Heiß, die aber im Kriegsdienst  abwesend waren, war ein Bretterlager mit Dach und ein Obstgarten mit verschiedenen Bäumen und einem Gartenhäuschen.
Als Kleinkind hatte ich den nach Süden offenen und dadurch warmen und windgeschützten Hof und Garten als Spielplatz. Das Haus hatte ein weit nach Süden überstehendes Dach. Da saß der kranke Großvater und  passte auf die Kinder auf, während die Frauen der Arbeit in Hof und Feld nachgingen.

Die Kinderkleidung auf den Bildern ist durchwegs selbst gestrickt. Im Krieg gab es nichts mehr zu kaufen. Da haben die Mütter alte Wollsachen aufgetrennt und etwas neues daraus gestrickt.  So wurde die Kinderkleidung dem Wachstum der Kinder angepasst. Den Kindern war es egal, sie kannten es nicht anders. Die Cousine Irmi ist besser gekleidet. Ihre Mutter war Schneiderin und konnte aus alten Resten Kinderkleider nähen. 
1943 im letzten Kriegsurlaub fotografierte mich mein Vater auf einem Dreirad, das er in Italien gekauft hat.
1943 ging krabbeln noch schneller als laufen. Aber auf dem Dreirad ging es schnell.

Der Großvater Franz Xaver Heiß


1943 war der Großvater 73 Jahre alt und litt an Wassersucht. Er konnte schon lange die schwere Arbeit nicht mehr leisten. Die Großmutter war nur 2 Jahre jünger und versorgte den Stall mit dem Ochsen und der Kuh. Als vollwertige Arbeitskraft kam meine Mutter gerade recht. Da die Männer alle im Krieg waren, musste sie alle Arbeiten verrichten, die eigentlich Männerarbeit waren. So pflügte sie mit dem Ochsen den Acker, erntete das Getreide mit der Hand. Die Landwirtschaft war nicht groß. Das für die Familie notwendige Essen konnte sie gut erzeugen.
Nur zum Dreschen des Getreides kam die Dreschmaschine der Dorfgemeinschaft in den Hof.  Alle anderen Arbeiten wurden mit der Hand und dem Ochsen als Zugtier erledigt.  Meine Mutter hat auch beim Polz-Bauern (Großbauer in Hattenhofen)  wo ihre Schulfreundin Bäuerin war, mit dem Pferd den Acker gepflügt. Im Gegenzug werden die Polzen bei unserer Landwirtschaft geholfen oder Getreide gegeben haben.

Nicht nur bei den Lebensmitteln, sondern auch mit Energie war die Familie autark. Das Brennholz (Äste) musste aus dem Wald geholt und Ofen fertig zerkleinert werden. Damit war die Großfamilie in den Notjahren auf keine Einkäufe angewiesen.

Der Torfstich

Der Großvater hatte auch einen Torfstich. Es war wohl Gemeindegrund, der von allen Gemeindemitgliedern gemeinsam genützt wurde. Heute ist das ganze Gelände eine große  Photovoltaik-Anlage.  Unter dem Humus war Torf.   Ich erinnere mich undeutlich. Da war ich 2 bis 3 Jahre alt. Es muss vor 1945 gewesen sein, denn ab 1945 war der Großvater krank und arbeitsunfähig.  Der Großvater hat  mit einem rechteckigen Schneidegerät an einer langen Stange über einer senkrechten Wand aus Torf stehend  aus einem schmalen Wasserloch im Moor längliche rechteckige Torfstücke etwa so groß wie Briketts  geschnitten.Das Torfstück blieb in der Form hängen, wurde mit der Stange aus dem Wasserloch hervor gehoben. Dann hat gegenüber  meine Mutter den Torf aus der Form genommen und   unter einem Dach daneben über kreuz  zum Trocknen aufgerichtet.  Die getrockneten Torfstücke waren unser Heizmaterial. Ich musste ruhig daneben sitzen bleiben und zuschauen. Wenn ich in das tiefe Wasserloch gefallen wäre, hätten  mich die Erwachsenen kaum heraus fischen können.

So verbrachten wir die Jahre 1943 bis Ende 1946 vor Bombenangriffen sicher und ohne zu hungern auf dem Land. In den Nächten hörte man die Flieger und sah am östlichen Horizont den Lichtschein der brennenden Stadt München.Tante Leni war schon um 1940, als ihr Mann in den Krieg musste,  mit Kind und Möbeln zu den Eltern heim gekommen und wohnte in der "Austragswohnung" in einem Nebengebäude. Als Schneiderin und Näherin war ihre Arbeit im Dorf gefragt und wurde mit Lebensmitteln bezahlt. Leni arbeitete deshalb nicht regelmäßig in der Landwirtschaft.

Die Tante  Fanni in Oberschweinbach. so klein und zierlich sie war, brachte in diesen Jahren das Kunststück fertig, alleine ein Haus für ihre Familie zu bauen. Meine Mutter erzählte mir, daß Fanni einmal einen Bezugsschein für einige Tonnen Zement bekam, der jedoch am Bahnhof Althegnenberg lagerte. Sie kam mit dem Radl nach Hattenhofen. Hier spannte meine Mutter den Ochsen vor den Wagen und beide fuhren mit dem Fuhrwerk nach Althegnenberg, luden die Zementsäcke auf den Wagen, fuhren bergauf bergab nach Oberschweinbach, luden den Zement ab und dann fuhr meine Mutter mit dem Wagen zurück nach Hattenhofen. Die knapp 20 km waren mit dem langsamen Ochsen wohl eine Tag füllende Unternehmung.

1944 früheste Erinnerungen an die Kriegsjahre

Am 21. April und am 9. Mai 1944 war laut Impf-Bescheinigung die Diphtherie-Impfung beim Wirt Eberl an der Hauptstraße in Hattenhofen.  Die Ärztinnen (wahrscheinlich waren es Krankenschwestern, denn die Ärzte waren im Kriegseinsatz) impften im Nebenzimmer der Wirtschaft. Alle Mütter mit Kleinkindern warteten in der vormittäglich leeren Wirtsstube. Da alle Kinder schreiend  aus dem Nebenzimmer kamen, schrien und zappelten die Wartenden schon vorher. Ich sehe noch die hohe Wandvertäfelung aus Profilbrettern in der Wirtsstube vor mir. Die Ärzte mussten gute Nerven haben und behandelten die Kinder entsprechend unsanft, so dass diese wirklich Grund zum Schreien hatten. Diphtherie-Impfung erfolgte meines Wissens mit einer Angst einflößenden  Spritze. Das ist im Alter von 2 3/4-Jahren meine früheste Erinnerung an ein konkretes Ereignis.

Meine Mutter war in Sorge, was aus der Bäckerei in München geworden ist. So lange noch Züge fuhren, ist sie immer wieder einmal nach München gefahren, um nach zu schauen und etwas zu holen, zum Beispiel Kleidung.  Tatsächlich waren dort einmal, als wir ankamen, fremde Leute, "Ausgebombte", die ihre Wohnung verloren hatten,  aus der Nachbarschaft einquartiert. Eingeprägt hat sich das Bild mit meiner erschrockenen Mutter im Hausgang, während die Hausverwalterin beschwichtigend auf beide Parteien eingeredet hat.

Meine Mutter setzte mich bei diesen Besuchen in einen leichten Kinderwagen für die Wege zur Bahnstation Haspelmoor bzw. vom Hauptbahnhof ins Westend zur Parkstraße. Ich erinnere mich, dass uns eine Frau deswegen angesprochen hat, warum ich als so großer 3-jähriger Bub noch im Wagerl gefahren wurde. Meine Mutter sah das realistischer. Mit dem Kinderwagen konnte sie bei Fliegerangriff rennen. Mit einem übermüdeten oder quengelnden Kind an der Hand ging das nicht. Das hat die andere Frau dann schon verstanden.

Bei einem dieser München-Besuche noch vor Kriegsende wurden wir vom Fliegeralarm überrascht. Da saßen wir mit den übrigen ca. 10 Hausbewohnern der Parkstraße im Luftschutzkeller, einem etwa 20 qm großen Raum, der mit einer massiven Eisentüre zum Kellergang hin verschlossen war. Ich weiß noch undeutlich, wie der Raum mit Ziegelgewölbe  ausgesehen hat. Wenn ich daran denke, bekomme ich Beklemmung,  Platzangst und das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Bei Alarm wurde der Strom abgeschaltet. Dann war es dunkel.  Ich war wohl das einzige Kleinkind in diesem Keller. Größere Kinder aus dem Haus waren schon aufs Land geschickt worden. Heute frage ich mich, wozu dieser Keller gut war. Wenn das Haus von Bomben  getroffen worden wäre, gebrannt hätte oder gar eingestürzt wäre, hätten wir diesen Keller nur durch eine Kellerluke verlassen können. Vor diesem flachen niedrigen Kellerfenster lag normalerweise ein schwerer Betonklotz ca. 100 x 40 x 20 cm, ein Luftschutz-Stein. Die Eingeschlossenen hätten erst diesen Beton weg wälzen müssen. An die Fassade außen waren große weiße Pfeile zu diesem Luftschutzraum-Fenster gemalt. Sie sollen Helfern oder Schutzsuchenden den Weg in den Bunker zeigen.

Ab September 1944 war mein Vater in Kriegsgefangenschaft. Nun musste meine Mutter alleine zurecht kommen. Es dauerte wohl bis 1945, bis sie wieder Nachricht hatte, dass Vater überhaupt noch lebte.

Auf den Bildern aus den Kriegsjahren fällt mir auf, dass meine Mutter. obwohl sie in die Kamera zu lächeln versucht, einen ungewohnt harten Gesichtsausdruck hat. Das kam wohl durch den Krieg.

29. 4 . 1945 Kriegsende


 Meine zweite datierbare  Erinnerung ist das Kriegsende 1945. Wir waren in Hattenhofen.

 In der Nähe des Hauses führt die Bundesstraße Augsburg München durch den Ort. Die Amerikaner waren bereits in der Nähe des Dorfes. Wir saßen alle im Kartoffelkeller unter der Scheune. Das war der einzige Keller des Anwesens.  Im Brandfall wären wir aus dem Keller niemals heraus gekommen. Da bombardierten amerikanische Flieger das Dorf. Als sich der Lärm legte, verließ Mama den Keller, um uns eine Suppe zu kochen. Wir hatten große Angst um sie. Als  wir uns auch aus dem Keller wagten, war das Metzgeranwesen auf der anderen Straßenseite abgebrannt. Ich erinnere mich, wie die Feuerwehr, das waren junge Frauen in grünen Uniformen, die rauchenden Trümmer auseinander räumten. und die am Boden liegenden Reste löschten.  Frauen in Hosen waren damals noch ungewöhnlich, so dass   mir kleinem Kind das auf fiel.  Mama hatte ein weißes Bettlaken aus dem Fenster gehängt, wahrscheinlich hatten die Nachbarn das gleiche getan.

Man kann den Amerikanern nicht vorwerfen, dass sie so kurz vor Kriegsende kein Risiko mehr ein gingen und keine Lust zu Kampfhandlungen mehr hatten. 

Meine Tante erzählte mir dazu später, dass Irmi (6) und ich (3,5 Jahre) neugierig hinter dem Fenster  zur Straße saßen, während sich die Frauen versteckt hielten. Da schaute ein ganz schwarzer Neger zum Fenster herein. Als er uns Kinder sah, ging er gleich weiter. Wir hatten vorher noch nie einen Neger gesehen und sind natürlich sehr erschrocken..

Dann rollten die amerikanischen Panzer langsam auf der Bundesstraße durch den Ort in Richtung München. Sie rollten pausenlos mehrere Tage und Nächte. Bald überwanden wir Kinder die Angst und standen staunend am Straßenrand.  Manchmal warf uns ein Soldat Schokolade oder Süßigkeiten aus dem Fahrzeug zu. Nach meiner kindlichen Erinnerung rollten eine Woche lang Tag und Nacht Panzerkolonnen  auf der Bundesstraße durch den Ort, während wir die Reste des deutschen Militärs überhaupt nicht bemerkt hatten. Sicher waren nur die ersten Fahrzeuge Panzer und der Rest LKWs, aber für mich als Kind war da kein Unterschied. Alle hatten die gleiche Farbe. Aber die Kolonne war wirklich eine Woche lang.

Die Silberdächer in Hattenhofen

In den letzten Kriegstagen standen alle Bahnhöfe voll mit Güterzügen, nachdem die Strecken durch Bombardierung unterbrochen waren. Im Bahnhof Haspelmoor standen Güterwägen mit eiförmig runden Aluminiumblechen mit etwa 25 cm Durchmesser an der längeren Seite. Nach Kriegsende hat die Dorfbevölkerung die Züge geplündert und auch die Aluplatten mitgenommen, wahrscheinlich weil sie so schön silbrig glänzten. Niemand wusste, was man damit anfangen konnte, bis jemand die Idee hatte, die Scheiben wie Fischschuppen oder Biberschwanz-Dachplatten auf ein Dach zu nageln. Bald waren viele Nebengebäude und Holzlegen in Hattenhofen so gedeckt und glänzten silbrig. Noch lange sind mir bei Besuchen die Silberdächer aufgefallen. Manche wurden später mit Farbe überstrichen

Holzgaser

Es muss bald nach dem Einmarsch der Amerikaner gewesen sein, als noch keine Züge verkehrten. Ich erinnere mich, wie mich meine Mutter im Morgengrauen die Bundesstraße Richtung Mammendorf entlang zog bis zu einem abgelegenen Haus. Dort stiegen wir in einen Holzgaser-LKW, der nach München fuhr. Ein Holzgaser war ein Lastwagen, der auf der Ladefläche einen umgebauten Badeofen hatte, in dem Feuer brannte. Im Wasserbehälter war kein Wasser, sondern geeignete Holzscheite, die durch die Hitze vergast wurden. Mit dem Gas lief der Dieselmotor.  Der Fahrer musste immer nachheizen, wenn der Motor stehen blieb. Mit dem LKW kamen wir am gleichen Tag wieder nach Hattenhofen zurück.  Meine Mutter hätte mich auch bei den Großeltern und Tanten lassen können, aber da hätte ich wahrscheinlich ein Geschrei angestimmt.  Außerdem war ein Kleinkind paradoxerweise ein Schutz für die Frauen vor Belästigung.

Bei diesen Kontroll-Besuchen ging meine Mutter mit mir jedes mal ganz heimlich in den Bäckerei-Keller. Da stand in einem stumpfen finsteren  Gangende unter Gerümpel getarnt ein 5-Liter Blecheimer mit Zuckerguss, "Fondant-Masse" genannt. Davon bekam ich bei jedem Besuch einen Löffel voll zu schlecken.

Mit dem Rad fuhr meine Mutter im Mai oder Juni 1945, als es noch keine Post gab, mit mir im Kindersitz von Hattenhofen nach Freising zur anderen Großmutter, um dieser mitzuteilen, dass wir den Krieg überlebt hatten.

Meine Cousine Irmi war 3 Jahre älter als ich und mit ihrer Mutter, Tante Leni,  in Hattenhofen evakuiert. 1944 besuchte sie schon die Schule. Was sie lernte, brachte sie mir anschließend bei, denn ich war ihr Spielgefährte und musste beim Schule spielen immer die Schülerrolle übernehmen. Tante Leni war Schneiderin und war die einzige der Erwachsenen, die nicht auf dem Feld, sondern im Haus arbeitete. Sie hat tagsüber auf die Kinder aufgepasst, ihre Tochter Irmi und  mich.  Wir hatten in den Kriegsjahren fast kein Spielzeug und keine Anregung von außen,  und spielten zwangsläufig mit den Sachen, die wir vor fanden. Fernsehen und Bücher gab es nicht. Schule war sehr interessant zu spielen, da es nichts anderes gab.
 So konnte ich beim Schulanfang bereits lesen, aber nach Dorfschulart. Meine Lehrerin in München beanstandete immer mein Buchstabieren: ich sagte A, Bee, Cee, Dee usw. Wir sollten aber die Konsonanten allein sprechen, ohne die Vokale dazu.
1946 zog meine Mutter mit mir wieder nach München, um ihren Anspruch auf die Wohnung zu verteidigen.

1946 Ringsum Ruinen

So sauber und in gutem Zustand wie heute  waren die Häuser im Westend  1946 nicht. Schon im September 1942 wurde die nächste Straßenecke Parkstraße - Tulbeckstraße von Bomben getroffen. 1946 stand an dieser Stelle nichts mehr. Bis um 1950 waren die Schutthaufen weg geräumt. Als die Häuser in den 1950-er Jahren wieder aufgebaut wurden, wohnten wir schon nicht mehr im Westend.
Es war große Wohnungsnot. In jedes freie Zimmer wurden "Ausgebombte" oder Flüchtlinge einquartiert. Von der Bäckerei und der dazu gehörenden Wohnung im 1. Stock konnte meine Mutter nur ein Zimmer im ersten Stock behalten.  Die Bäckerei war  bis 1949 unter verpachtet an eine Familie, die nach meiner Erinnerung Hornung hieß. Wir behielten die zwei zur Bäckerei gehörenden Zimmer im 1. Stock. Das war nur eine Teilwohnung. In zwei weiteren Zimmern wohnte eine alte Familie Gradl. Eine Wasserstelle für alle gab es nur im Gang und das Klo war im Treppenhaus. Meine Mutter hatte als Schlafzimmer mit mir eines der zwei Zimmer, das nur durch das andere, eine Wohnküche, zu erreichen war. In der Wohnküche waren noch zwei Männer einquartiert. Die waren tagsüber, wenn wir dort wohnten, in der Arbeit. Das Schlafzimmer war ja nicht heizbar. Der ältere Mann hieß Thoma und hängt irgendwie mit der Familie Thoma zusammen, bei der meine Mutter 1941 als Hausmädchen arbeitete. Siehe dazu den Bericht meiner Mutter. Ich glaube, Thoma hatte seine ganze Familie und die Wohnung bei einem Fliegerangriff verloren. Ich habe versäumt, meine Mutter danach zu fragen.  Er war jedenfalls alleinstehend und als in der Nachbarwohnung ein Fräulein Scheckenhofer einquartiert wurde, hat Thoma zur Verblüffung der Hausleute überraschend das Fräulein Scheckenhofer geheiratet.
Der zweite Zimmerherr war ein junger Mann namens Wagner. Er war aus Schlesien und als Soldat in München gestrandet. Seite Eltern fand er über das Rote Kreuz erst nach einigen Jahren wieder. Diese kamen dann als Flüchtlinge nach München. Bis dahin hat er als Gehilfe in der Werkstätte von Thoma gearbeitet.  Wir sahen ihn später öfters als Zeitungsverkäufer am Hauptbahnhof und ich erinnere mich an einen Besuch bei den Eltern Wagner, nachdem diese in München eine Wohnung bekamen. Das war schon nach 1949..

Kino

Als 1946 das Kino an der nächsten Ecke wieder öffnete, wurde meine Mutter von ihren einquartierten Zimmerherren in das Kino eingeladen. Ich wurde mit genommen. Wer hätte sonst auf mich aufgepasst. Dass der Film ("Der Tiger von Eschnapur") Jugendverbot hatte, störte wohl niemand, denn ich war ja noch ganz klein. Die Handlung habe ich nicht mitgekriegt, aber an eine Szene erinnere ich mich noch: Ein Mann schwamm flüchtend im Wasser und einige Krokodile verfolgten ihn. Davon träumte ich jahrelang. Meine Abneigung gegen Kinofilme kann auf dieses Erlebnis zurück gehen. Das Kino spielte damals eine viel wichtigere Rolle als heute, denn Fernsehen gab es noch nicht.

Ich war etwa 5 Jahre alt (1946), als ich eine Straßenbahn abbremste. Im Anhänger (Beiwagen) der Straßenbahn gab es an der Wand der Plattform ein halbmeter großes Rad. Das war die Handbremse, wenn der Wagen abgestellt wurde. An Bergstrecken, wie am Nockherberg, musste sich der Schaffner an die Handbremse stellen, um notfalls den Wagen abzubremsen. Als ich mit meiner Mutter in die Straßenbahn gestiegen war, sah ich das Rad und rief: "Ui, ein Radl !"  Schon war ich dort und habe gedreht. Da hat es gerumpelt und der Straßenbahnzug ist gestanden. Der Schaffner konnte mir nicht so schnell nachlaufen. Er hat  die Bremse wieder aufgedreht,  dann zweimal an seinem Glockenseil gezogen. Da hat beim Fahrer im ersten Wagen die Glocke gebimmelt und die Tram konnte weiter fahren. .Die Handbremsen hatten schon eine Sperrgabel, aber diese war offensichtlich nicht eingehängt.

1946 Spielzeug

Einer der Zimmerherren namens Thoma hatte eine Schreinerei, die auf die Herstellung von hölzernen Hutformen spezialisiert war. Als ich mit meiner Mutter einmal in die Werkstätte kam, nahm Thoma einen etwa 10 cm großen Holzwürfel und zerschnitt ihn mit der Bandsäge, wobei er ihn ständig drehte. Dann schenkte er ihn mir. Der zerschnittene Würfel fiel nicht auseinander, konnte aber wie ein Puzzle zerlegt und zusammengesetzt werden. Thoma zeigte mir, wie es ging. Ich brachte den Würfel aber nicht alleine zusammen. Als ich später Gewalt anwendete und Teile zerbrach, war Thoma enttäuscht.

Einmal war ich nach dem Krieg mit meiner Mutter in einem größeren Raum, in einer Ruine  Ecke Tulbeck - Parkstraße. Mehrere Frauen sortierten Lumpen in große Säcke. Plötzlich kam eine Kasperl-Handpuppe unter den Lumpen zum Vorschein. Eine der Frauen meinte: "Schenkt den Kasperl doch dem Kind".  So bekam ich mein erstes und, soweit ich mich erinnere, einziges puppenähnliches Spielzeug. Der Kasperl hatte eine grüne Filzjoppe. Der Kopf war, glaube ich, nicht aus Holz, sondern aus einem weicheren Material. Am Ende der langen Zipfelmütze hatte er ein Glöckchen. Mit dem Kasperl unterhielt ich vom Parterre-Fenster aus die vorbei gehenden Leute.

Fortsetzung Jahre 1947 bis 1955

(C)  Josef Kiening München 2024